Ein Blick zurück in Rothenburg ob der Tauber - St. Wolfgang in Rothenburg ob der Tauber
Die Familie Otneit (später Otnat) legt im 15. Jahrhundert einen steilen Aufstieg in der Reichsstadt hin, die sich damals in ihrer Blütezeit befand. Quelle des Reichtums: der Handel mit der Schafwolle, der in Rothenburg generell floriert in jener Phase. Und der gar in einer eigenen Kirche der Schäferbruderschaft im Nordwesten der Stadt mündet, gegründet von Michael Otnat (geboren 1425). Otnat hat es von der Neugasse in die zentralere Rödergasse geschafft, den Aufstieg seiner Familie aus dem nahen Gailnau nach Rothenburg somit fortgesetzt. Gewidmet wird die Wallfahrtskirche St. Wolfgang, dem Schutzheiligen aller Hirten – und somit auch der Schäfer. Neben Schafhirten treten der Gemeinschaft aber eben auch wohlhabende Händler bei. Was bezweckt Otnat mit der Gründung der Bruderschaft im Jahr 1476? Warum all der Aufwand für eine Kirche und eine Gemeinschaft? Nun, der Glaube bestimmt das Leben der Menschen in viel größerem Maße als heute. Und das Leben und Schicksal nach dem Tod steht im Zentrum der Ängste und Hoffnungen der Menschen. Da kann es nicht schaden, wenn man seinen Glauben in den einen Gott in einem Gebäude manifestiert. Und wenn einen die Gemeinschaft aktiv ins Gebet einbezieht und sich auch nach dem Tode um die Seele des Gläubigen sorgt.
Das lassen sich auch die Mitglieder der Schäferbruderschaft einiges kosten: neben den jährlichen Abgaben der Mitglieder speist sich das Vermögen der Kirche aus dem Ertrag der Bruderschaftsherde und den Einnahmen der Pilger. Denn St. Wolfgang, das seit seiner Fertigstellung 1493 nie zerstört wurde, gilt als Wallfahrtsort – schon vor dem Bau der Kirche munkelte man über wunderliche Geschehnisse, die sich nordwestlich der Stadtmauer zutrugen. Pilgerten die Frommen zunächst auf die offene Stelle vor dem Klingentor Rothenburgs, so wollten dies das nahe Bistum Würzburg und auch die Stadt Rothenburg bald verstetigen. Da trifft sich das Bauvorhaben des Wollhändlers Otnat hervorragend. Weil die Kirche an der heiligen Stelle somit viel zu nahe an der Stadtmauer steht und dem Feind im Falle eines Angriffs Schutz bietet, wird sie gleich in die Verteidigung der Stadt integriert – samt Kasematten und Wehrgängen. Im Zusammenspiel mit dem Klingentor bildet sie eine wehrhafte Bastion. Zumal historische Darstellungen aus dem Stadtarchiv nahelegen, dass die Mauer mit einem Wehrturm weitergeführt wurde, wo sich heute ein leicht erhöht gelegenes Wohnanwesen befindet.
Auf der Stadt zugewandten Seite verrät die Inschrift neben den Figuren des Jesus und des Heiligen Wolfgangs dem Reisenden direkt den Sinn und Zweck der Kirche: welcher Ablass in der Kirche erteilt wird, ist auf dem Text an der Außenseite bereits klar ersichtlich. Das ist nicht unwichtig, entsteht doch fast zur gleichen Epoche eine weitere Pilgerkirche, die Marienkirche an der Tauber (Kobolzeller Kirche). So spektakulär der Bau der gotischen Kirche St. Wolfgang gelingt, einen eigenen Priester kann sich die Schäferbruderschaft nie leisten. Ob’s an der reichhaltigen Konkurrenz im Ringen um das Pilgervermögen liegt? Einerlei: Die Messe wird auf jeden Fall stets von einem Geistlichen der Stadtkirche St. Jakob gelesen.
Die karitative Versicherung durch die Bruderschaft hat bis ins frühe 19. Jahrhundert Bestand, dabei geht es auch um sehr konkrete Hilfen wie der Witwenversorgung. Das Erbe Otnats wird auch dann weiter fortgeführt, als die Stadt protestantisch dominiert wird. Eine Besonderheit Rothenburgs, denn eigentlich halten sich die Bruderschaften nur in katholischen Gegenden. In Rothenburg verliert sie freilich mehr und mehr an Bedeutung, 1802 wird die letzte Predigt für die Schäfereibruderschaft in St. Wolfgang gelesen. Mit dem Übertritt Rothenburgs zum Königreich Bayern verschwindet ein wichtiger Teil der rothenburgischen Schäfertradition gar komplett – denn neben vielen Gebäuden muss die finanziell klamme Stadt auch Schafherden verkaufen. Die edlen und weit über die Stadt hinaus bekannten Tiere werden vom bayerischen Königshaus konfisziert.


Als Wehrkirche oder Kirchenburg darf sich St. Wolfgang nicht bezeichnen, stehen dies doch im ländlichen Raum als Fluchtorte quasi allein. Und einzigartig ist die Konstellation mit der Integration der Kirche in die Stadtverteidigung auch nicht: St. Blasius in Kaufbeuren, die Annenkapelle in Kronach und St. Johann Baptist in Kronenburg sind weitere Beispiele. Was hingegen einzigartig ist: die Kirche und ihr Interieur sind quasi original erhalten, die drei Altäre stehen „in situ“ – also weiter an ihrem ursprünglich vorgesehenen Platz in der Kirche. An den Altären finden sich Spuren tiefer Frömmigkeit, die man anderswo kaum noch findet: Wetzspuren an der Altarmensa des Wendelinaltars sowie eingeschlagene Nischen in den Altären, um dort bestimmte Gegenstände abzustellen, die man vermutlich dinglich mit den Heiligen verbinden oder segnen möchte. Ebenso findet sich auch ein Hufeisen in einer Fensternische neben dem Altar – Hinweis auf den Wunsch des Schutzes und der Behütung durch Heilige für Pferde als Zugtiere. Andernorts gab es gar Wolfgangsritte, in großem Ausmaß an der Wolfgangskirche Ochsenfurt.
Was von der Schäfertradition bleibt, ist bis heute der Historische Schäfertanz. Der Verein begeistert mit seinen eindrucksvollen Tanzformationen auf dem Marktplatz, die um 1910 erdacht wurden. Zu diesem Zeitpunkt gründete sich der Verein Historischer Schäfertanz, in dem nur echte Rothenburger Familien einen Platz fanden. Die Formationen, die bis heute aufgeführt werden, haben keinen nachweisbaren historischen Bezug zur Schäferbruderschaft Otnats. Die hatte sich freilich in ihrer Hochzeit in Rothenburg das Recht erworben, einen öffentlichen Tanz auf dem Marktplatz aufführen zu dürfen – ein echtes Privileg in früheren Zeiten, als der Tanz als laster- und frevelhaft galt. Dieses Recht greift der Historische Schäfertanz also auf, vermengt in seiner Gründung aber auch eine – zunächst antijudaische Legende – aus dem 19. Jahrhundert in seiner Gründungsgeschichte: die Schäfer, so heißt es darin, hätten den Schäfertag und -tanz einst ausrichten dürfen, weil sie die Bevölkerung Rothenburgs vor vergifteten Brunnen warnten. Vom Zusatz, dass es Juden waren, die angeblich das Wasser verunreinigten, ist im Gründungsmythos der Vereins nichts mehr zu lesen. Der Verein gilt zu seiner Hochzeit bis weit in die 1970er und 1980er hinein als elitärer Zirkel in Rothenburg – so mancher findet hier seinen Partner fürs Leben. Heutzutage tritt der Verein rund um die Pfingstfestspiele und an den Reichsstadt-Festtagen auf und hält die Wolfgangskirche als Vereinsmuseum in Ehren und für die Öffentlichkeit zugänglich.